von Joachim Robbrecht
Zusammenfassung
Im Auftrag der Regisseurin Sarah Moermans unterzog Joachim Robbrecht einige Stücke von Henrik Ibsen einer genaueren Betrachtung und „überprüfte“ ihren Wert und ihre Bedeutung für die heutigen Bühnen. In Crashtest Ibsen: Volksfeind geht er von der Frage aus: Was nützt dem Volk am meisten: die kollektive Lüge oder die vernichtende Wahrheit?
In seiner Überarbeitung von Ein Volksfeind gelingt es Robbrecht, Ibsen gerecht zu werden, ihn aber gleichzeitig auch liebevoll auf Distanz zu halten. Die Umrisse von Ein Volksfeind (1892) bleiben erkennbar. In vier Akten erleben wir den Niedergang des integren Arztes Stockmann, der entdeckt, dass das Wasser der Heilbäder, die für sein Dorf die größte Einkommensquelle darstellen, verschmutzt ist. Sein Bruder, der Bürgermeister des Dorfes, will die Sache vertuschen. Anfangs wird der Arzt von der populistischen Presse unterstützt, die ihre eigenen politischen Motive verfolgt, doch proportional zu der zunehmenden Entrüstung und Radikalisierung des Arztes wächst der Widerstand des „Volkes“ gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Wahrheit. Der Arzt unterliegt seinem Bruder, der Mittelschicht und der Presse, und wird schließlich als „Volksfeind“ aus dem Dorf gejagt.
Dahingegen will Robbrecht sein Publikum nicht eindeutig in die moralischen und politischen Dilemmas von Ibsens Text mitnehmen. Von Anfang an lässt er die Figuren die „vierte Wand” durchbrechen. Sie sprechen die Zuschauer direkt an, beschweren sich über ihre Rollen oder kommentieren den dramatischen Spannungsbogen und entblößen damit die Konstruktion des Theaterstücks. Sie machen kein Geheimnis daraus, dass sie ein Spiel spielen. Trotz dieser Demaskierung bleiben wichtige Themen von Ibsens Volksfeind bestehen: die Integrität des Einzelnen, das Scheitern der Demokratie, die Feigheit der Mehrheit, der journalistische Hang zur Sensation.
Die Redaktion zu ihrer Auswahl
In Crashtest Ibsen: Volksfeind bricht Robbrecht alle Ebenen von Ibsens Original brillant und dynamisch auf. Sein Volksfeind spielt in einem norwegischen Dorf und handelt von der Entdeckung einer ernsten Wasserverschmutzung in einem erfolgreichen Wellness-Resort.
Die komplette gesellschaftliche Infrastruktur, in der wir heute leben, ist Teil des Stückes geworden; damit stellt sich die heutige Welt etwas komplexer dar als die des 19.Jahrhunderts.
Joachim Robbrecht hat Ibsens Geschichte dekonstruiert und mit Verweisen auf unsere Zeit neu ausgearbeitet. Doch er tut mehr als das, indem er letztendlich die Erzählstruktur auseinandernimmt und die Figuren gegen den Willen ihres Schöpfers Ibsen revoltieren lässt. Die Figuren liefern nicht nur einen dramaturgischen Kommentar auf die Geschichte und sich selbst, sie sprechen das Publikum direkt an und benennen offen ihre Motive. Durch ihre Zusammenstöße mit dem Inhalt und Ibsens Dramaturgie entsteht ein spannendes neues Theaterstück, das alle Elemente der heutigen Welt vereint: die Wichtigkeit von Imagebildung, die Sensationspresse, die regierende Elite, der aufkeimende Populismus, die Empfindlichkeit des Staates, die Meinungsfreiheit und die Gleichgültigkeit der Massen, in den Schlaf gewiegt von gestiegenem Wohlstand. Auch der Idealismus trägt in diesem Volksfeind nicht mehr das Gesicht von damals, im Gegenteil: das „Engagement” des Arztes verrät vor allem seinen Hang zum Drama und seine Eitelkeit.
Nach einer ideologischen Diskussion beschließen die Figuren, einen anderen Weg einzuschlagen. Sie treten aus der Erzählung heraus und fordern uns auf, es ihnen gleichzutun. Denn auch wir, die Leser und Zuschauer, sind in das Drama verstrickt, wir sind süchtig nach Geschichten, „besorgt, wir könnten sonst versinken, im großen Ozean des Nichts …“. So soll die Emanzipation der Figuren eigentlich zu der des Publikums werden. Und damit ist Volksfeind ein enthusiastischer Ansporn für das Publikum/den Leser, den Zynismus über den Verlust der großen Geschichten hinter uns zu lassen und jeden Moment unser eigenes Leben zu gestalten. Über den Schlussmonolog der Tochter des „Volksfeindes” regt das Stück dazu an, eine beweglichere Wahrheit als die Ibsens in Anspruch zu nehmen, eine Wahrheit, die von uns verlangt, ständig neu Position zu beziehen, vielleicht sogar in jedem Moment.
Crashtest Ibsen: Volksfeind ist herausfordernd und sprachlich wunderbar: Schau, wie sich die Welt und die Dramaturgie verändert haben; erkenne darin deine Rolle und deine Verantwortung als Zuschauer.